Polens Sicherheit beruht auf einem Netzwerk von Verträgen. Zunächst knüpfen Frankreich und das Kollektiv der Siegermächte dieses Netz. Letztere binden Polen an einen Minderheitenschutzvertrag, um den vorhersehbaren Sprengstoff, den die neu geschaffenen Minoritäten bilden, zu entschärfen und um den Vaterländern dieser Minderheiten den Grund für spätere Interventionen oder Rückeroberungen zu nehmen. Polen empfindet diese Regelung als Diskriminierung und kündigt 1934 den Vertrag, der jedoch Teil des Vertragswerks von Versailles ist. Polen rüttelt damit zum zweiten Mal an der Konstruktion der Pariser Vorortverträge. Das erste Mal war das die Nichtanerkennung der Curzon-Linie. Die polnischen Regierungen demontieren damit eine Friedensordnung, auf die sie sich trotzdem immer wieder selbst berufen; eine Ordnung, die Polen später vielleicht hätte schützen können.
Das Verhältnis Polen – Frankreich
Nach 1920 knüpft Frankreich sein Netz von bilateralen Verträgen mit den Staaten Mittel-Osteuropas, um Deutschland mit einer so genannten „Kleinen Entente“ einzukreisen. Am 19. Februar 1921 schließen Polen und Frankreich einen Allianzvertrag mit dem Versprechen, sich im Falle eines nicht provozierten Angriffs durch dritte Staaten gegenseitig beizustehen. Der Vertrag wird durch eine geheime Militärkonvention ergänzt, die die französische Unterstützung im Falle eines deutschen oder sowjetischen Angriffs gegen Polen regelt. Frankreichs Absicht hinter den Verträgen ist indessen, daß Polen Frankreich mit Truppen gegen Deutschland unterstützt, sollte Frankreich dessen irgendwann einmal bedürfen.
1936, als Hitler Truppen in die Rheinlandzone einmarschieren läßt und damit die Wehrhoheit im eigenen Lande wiederherstellt, fühlt Frankreich sich zu schwach, das zu verhindern. Es macht keinen Gebrauch mehr von der Möglichkeit, die Kleine Entente zu einer „Strafaktion“ gegen Deutschland zu aktivieren. Spätestens von da an weiß man auch in Warschau, daß Paris nun nicht mehr auf die polnische Karte setzt.
Am 16. März 1939 ändert sich das wieder. Hitler bricht an diesem Tag sein Münchener Versprechen und macht die Rest-Tschechei zum Protektorat. Das ist für die Polen, Briten und Franzosen Grund zu der Befürchtung, daß die Deutschen bald auch Danzig übernehmen werden. Nun bittet Polen England und Frankreich um ein Garantieversprechen für sich selbst. Am 25. März 1939 gibt London das Versprechen. Am 31. März folgt Paris mit einer Garantieerklärung. Am 15. Mai besprechen der polnische Kriegsminister General Kasprzycki und sein französischer Kamerad General Gamelin, wie Frankreich Polen in einem Kriege unterstützen würde. Man sagt sich gegenseitig zu, gemeinsam gegen Deutschland vorzugehen. Polen stellt dabei in Aussicht, der deutschen Wehrmacht größtmögliche Verluste beizubringen und, sobald die Wehrmacht angeschlagen ist, Ostpreußen anzugreifen. Der Franzose Gamelin verspricht seinerseits eine französische Großoffensive ab dem 15. Tag der Allgemeinen Mobilmachung in Frankreich. Für Deutschland ist dabei bedeutend, daß die Zusage eines Angriffs der Franzosen gegen Deutschland auch dann gilt, wenn nicht Polen angegriffen, sondern nur Danzig an Deutschland angeschlossen wird.
Das Verhältnis Polen – Großbritannien
Großbritannien übernimmt erst kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs die Rolle einer „Schutzmacht“ Polens. Die Haltung Londons gegenüber Warschau bleibt zunächst lange Zeit sehr distanziert. Man registriert in England, daß Polen zwischen 1918 und 1938 mit der Sowjetunion, mit Deutschland, Litauen und der Tschechoslowakei Kriege anfängt, um sich nach allen Seiten auszudehnen. Desgleichen sieht man die Unterdrückungspolitik der Polen gegenüber den Ukrainern, Weißrussen, Juden und Deutschen mit großem Unbehagen. So ist Polen für Großbritannien bis 1939 das, was man heute als „Schurkenstaat“ bezeichnet.
Mit Hitlers Tschechei-Handstreich im März 1939 rückt Polen plötzlich wieder in das Zentrum des englischen Interesses. In London weiß man sehr genau, daß nach einer Heimkehr Danzigs irgendwann die Kolonien an die Reihe kämen, die Großbritannien 1919 Deutschland abgenommen hat. England will dem weiteren Gang der Revisionen deshalb rechtzeitig ein Ende setzen, und dazu eignet sich der deutsche Streit mit Polen um den Freistaat Danzig. Es schlägt vor, Frankreich und die Sowjetunion als weitere Garantiemächte mit ins Boot zu nehmen. Doch Polen will vermeiden, daß die Sowjetunion auf diesem Wege zur eigenen Schutzmacht wird, und bemüht sich, die Russen außen vor zu halten. In Warschau befürchtet man zu Recht, daß Moskau sich in einem Kriege gegen Deutschland die ihm 1920 abgenommenen Gebiete der West-Ukraine und Weißrußlands wiederholen könnte. Die polnische Regierung ersucht deshalb die britische um ein bilaterales Schutzabkommen gegen Deutschland. Am 31. März 1939 spricht Lord Halifax vor dem Unterhaus in London eine Garantieerklärung für Polen aus. Am 25. August, schließen London und Warschau das Beistandsabkommen, das sich die Briten und die Polen im März in London zugesichert hatten
Die Garantien aus London und Paris sind nicht nur Warnung, sie sind auch zugleich Verlockung. So sehr man in Berlin nun damit rechnen muß, daß kein weiterer Gewaltschritt ohne Antwort bleiben wird, so sehr verlockt der Schutz die Polen, in Zukunft kompromißlos gegenüber Deutschland aufzutreten. So wechselt Polen 1939 in das antideutsche Lager. Aufschluß über Englands Interessenlage gibt ein Geheimes Zusatzprotokoll, das Briten und Polen in Ergänzung zu ihrem Beistandsabkommen unterzeichnen. Im Geheimen Zusatzprotokoll vom 25. August wird präzisiert, daß das abgeschlossene Bündnis nur gegen Deutschland gültig ist. Als die Rote Armee am 17. September 1939 nach Polen einmarschiert und „Ostpolen“ annektiert, nimmt die britische Regierung dies auch ohne Konsequenz zur Kenntnis.
Das Verhältnis Polens zur Sowjetunion
ist zunächst durch den Vertrag von Riga bestimmt, in dem die Sowjets 1921 Teile der Ukraine und Weißrußlands an Polen abzutreten hatten. Für die Russen bleibt das eine offene Wunde, für die Polen ein Etappenziel. Marschall Piłsudski, dem ein neues Polen in den Grenzen der alten Polnisch-Litauischen Union von 1470 vorschwebt, verfolgt als Fernziel eine Föderation mit Litauen, ganz Weißrußland und der ganzen Ukraine unter Polens Protektorat.
1929 gelingt es dem sowjetischen Außenminister Litwinow, Polen, Rumänien und die Baltenstaaten für einen regionalen „Kriegsächtungspakt“ zu gewinnen. Sie unterzeichnen am 29. Februar 1929 das „Litwinow-Protokoll“, nach dem Kriege zwischen diesen Staaten zur Lösung internationaler Streitfälle in Zukunft ausgeschlossen werden sollen. Damit ist Polen, einschließlich seiner umstrittenen Gebiete in „Ostpolen“ vertraglich zunächst gegen Rußland abgesichert.
Am 23. Januar 1932 wird dann noch ein Polnisch-Sowjetischer Nichtangriffspakt paraphiert, im Juli unterschrieben, der die für Polen wichtige Bestimmung enthält, daß die Sowjetunion dem Deutschen Reich im Falle eines deutsch-polnischen Konflikts keinen Beistand leisten darf. Damit ist Polen durch einen weiteren Vertrag vor der Sowjetunion geschützt. Doch die Verträge von 1929 und 1932 verlieren ihre Wirkung, als Polen der Tschechoslowakei 1938 gegen Rußlands Warnung den Rest des Teschener Gebiets entreißt. Die Sowjetunion, seit 1935 ebenfalls mit der Tschechei verbündet, hatte Polen zuvor angedroht, den Polnisch-Sowjetischen Nichtangriffspakt im Falle eines Angriffs der Polen auf die Tschechoslowakei zu kündigen. So hat Polen mit der Teschener Annexion gleich zwei Verträge mit der Sowjetunion verletzt und faktisch annulliert. Man kann zwar mit Recht feststellen, daß die Sowjets später andere Nichtangriffsverträge z.B. mit Finnland und weiteren Ländern auch nicht eingehalten haben, und daß die zwei Verträge mit Polen vermutlich bei Bedarf ebenfalls gebrochen worden wären, doch der Vertragsbruch des Litwinow-Protokolls geht eindeutig von den Polen aus. Die Polen haben mit dieser eigenmächtigen Landerwerbung zu Lasten ihrer tschechischen Nachbarn auch den Kellogg-Pakt ( s. u. ) mißachtet. Sie haben die Verträge, die ihr „Ostpolen“ vor den Sowjets hätte schützen können, selbst zerrissen. Polen jagt als Hai im Haifischbecken solange mit, bis es selbst gefressen wird.
Das Verhältnis Polens zur Tschechoslowakei
Das Verhältnis der Nachbarn Tschechoslowakei und Polen bleibt in den 20 Jahren ihrer Unabhängigkeit kühl und distanziert. Ein paar Gegensätze trennen diese beiden Nachbarn. Das ist zum ersten Polens Forderung nach dem tschechoslowakischen Teil des Teschener Industriegebiets. Das ist zweitens in umgekehrter Richtung die offene Unterstützung des Tschechen für die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukrainer im benachbarten polnischen Galizien. Und das ist zum dritten die Unterstützung der Polen für die Ungarn, die die ungarisch besiedelten Randgebiete der Tschechoslowakei zurückerhalten wollen.
So paktiert in diesem Raum ein jeder mit dem Feind des Nachbarn, statt mit dem Nachbarn Ausgleich und Schulterschluß zu suchen. Die polnische Führung kommt überdies schon sehr früh zu der Auffassung, daß die Tschechoslowakei als Versailler Kunstprodukt nicht lebensfähig ist und durch den inneren Nationenkonflikt von selber auseinanderbrechen wird. Als die französische Diplomatie vor der Sudetenkrise 1938 den Versuch macht, Polen gegen Deutschland einzunehmen, läßt Polens Außenminister Beck den französischen Botschafter Noël in Warschau wissen, daß die „Tschechoslowakei in naher Zukunft verschwinden müsse“ und „daß man sich in Polen selbst darauf vorbereite, einen Teil des Erbes an sich zu nehmen.“
Das Verhältnis Polens zum Deutschen Reich
Die deutsch-polnischen Beziehungen werden in Einzelheiten im nachfolgenden Kapitel „Das deutsch-polnische Verhältnis zwischen 1918 und 1939“ noch beschrieben werden. Als Außenminister Stresemann 1925 seine Versöhnungsbemühungen gegenüber Frankreich mit dem Rheinpakt und mit der Anerkennung der deutsch-französischen Grenze krönt, versucht Marschall Piłsudski, die gleichen Garantien für die deutsch-polnische Grenzen und für Polens Landgewinne zu bekommen. Der deutsche Außenminister weist Piłsudskis Wünsche ab und erklärt, daß Deutschland zwar keinen Krieg beginnen werde, doch auf Gelegenheit zu einer Neuregelung in den Grenzregionen warte. Polen seinerseits läßt nicht mit dem Bemühen nach, Danzig in kleinen Schritten und mit vielen Winkelzügen aus dem Völkerbundmandat zu lösen und sich selber einzugliedern. Zudem wollen die vielen halbamtlichen Stimmen aus Polen nicht verstummen, die Schlesien, Ostpreußen und Pommern für Polen fordern. So steht das Verhältnis beider Länder zueinander bis 1933 unter der doppelten Hypothek der deutschen Ansprüche an Polen und der polnischen Wünsche nach weiterem deutschen Land.
Erst Adolf Hitler bricht mit dieser starren deutschen Haltung. Für Hitler ist der Staat Polen ein Puffer zwischen dem „Dritten Reich“ und der ihm so verhaßten kommunistischen Sowjetunion. Unter Hitler und Piłsudski schließen Deutschland und Polen im Januar 1934 einen Freundschafts- und Nichtangriffspakt für die Dauer von 10 Jahren.
Von da an gestalten sich die Beziehungen zwischen Berlin und Warschau zunächst recht positiv. Selbst bei den polnisch-deutschen Differenzen um Minderheiten und Gebiete sieht es zwischendurch so aus, als seien Lösungen zu finden. Nun folgt, eine Serie von sechs vergeblichen Versuchen von deutscher Seite, das Danzig- und das Korridor-Problem auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Kern der deutschen Kompromißvorschläge ist das Angebot, die polnischen Gebietserwerbungen in Oberschlesien, Westpreußen und Posen als endgültig anzuerkennen. Um diese Anerkennung hatte Marschall Piłsudski bis zu seinem Tode mehrfach vergeblich nachgefragt. Die 16 Reichsregierungen vor Hitler hatten diesen Wunsch der Polen nicht erfüllen wollen. Hitler bietet die erbetene Garantie nun gegen zwei „Tauschobjekte“: die Angliederung Danzigs, das völkerrechtlich ohnehin nicht polnisch ist, zurück ans Reich und exterritoriale Zugangswege in das abgetrennte Ostpreußen. Die Serie der Gespräche beginnt am 24. Oktober 1938 und setzt sich mit immer neuen Versuchen am 19. November, am 5. Januar 1939, am 25. und 26. Januar, am 21. März und am 28. April fort, bis am 30. August 1939 die letzte Offerte an Polen geht.
Am 24. Oktober 1938 schlägt Außenminister von Ribbentrop seinem polnischen Kollegen ein Acht-Punkte-Programm zur Lösung der deutsch-polnischen Probleme vor. Die wichtigsten von ihnen lauten:
- Der Freistaat Danzig kehrt zum Deutschen Reich zurück.
- Durch den Korridor wird eine exterritoriale, Deutschland gehörende Reichsautobahn und eine ebenso exterritoriale mehrgleisige Eisenbahn gebaut.
- Polen behält im Danziger Gebiet ebenfalls eine exterritoriale Straße oder Autobahn und Eisenbahn und einen Freihafen.
- Polen erhält eine Absatzgarantie für seine Waren im Danziger Gebiet.
- Die beiden Nationen anerkennen ihre gemeinsamen Grenzen (Garantie) oder die beiderseitigen Territorien.
- Der deutsch-polnische Vertrag wird von 10 auf 25 Jahre verlängert.
Trotz allen bisherigen Bemühens beider Seiten, die Beziehungen zueinander intakt zu halten, beginnt nun eine innerpolnische Entwicklung, die den Dialog zwischen polnischer und deutscher Regierung überrollt. Seit 1937 verändert sich in Polen die innere Großwetterlage. Zum ersten wird Becks „Verständigung“ mit Deutschland angegriffen. Zum zweiten erreicht die Drangsalierung der Minderheiten einen neuen Höhepunkt und drittens schießt sich die Presse in Polen auf alles Deutsche ein. Damit hat Beck so gut wie keinen Spielraum mehr. Am 19. November 1938 läßt Botschafter Lipski von Ribbentrop in einer Unterredung wissen, daß sein Außenminister Beck den deutschen Danzig-Wünschen aus innenpolitischen Gründen nicht werde zustimmen können.
Am 5. Januar unterbreitet Hitler ein zweites Mal den Vorschlag vom Oktober und bietet erneut die Anerkennung der verlorenen Gebiete als polnischen Bestand. Den Danzig-Vorschlag bringt Hitler nun auf eine entgegenkommendere Formel:
„Danzig kommt politisch zur deutschen Gemeinschaft und bleibt wirtschaftlich bei Polen.“
Selbst der Korridor soll dabei polnisch bleiben. Auch diesmal kommt ihm der polnische Außenminister kein Stück entgegen.
Im März 1939 ergibt sich für Polen eine Chance, das deutsche Drängen in Zukunft mit Englands Rückendeckung offen abzuwehren, als Hitler deutsche Truppen in die Tschechei marschieren läßt. Polens Außenminister Beck nutzt die Verärgerung der Briten und bittet die Londoner Regierung um ein Schutzabkommen gegen Deutschland. Polens Marschall Rydz-Śmigły läßt die polnischen Streitkräfte durch eine Mobilmachung verdoppeln und läßt Kampfverbände in Richtung Danzig und Pomerellen aufmarschieren. Diese Drohgebärde als Antwort auf ein Verhandlungsersuchen widerspricht dem Geist des deutsch-polnischen Vertrages, in dem zur Lösung von Streitigkeiten vereinbart worden ist:
„Unter keinen Umständen werden die Vertragsparteien zum Zweck der Austragung solcher Streitfragen zur Anwendung von Gewalt schreiten.“
Zu der Zeit gibt es von deutscher Seiten noch keine einzige Drohung gegenüber Polen.
Am 21. März ersucht Außenminister von Ribbentrop Botschafter Lipski, nach Warschau zu fahren und seiner Regierung die deutsche Bitte um neue Verhandlungen zu übermitteln. Am 26. März 1939 kehrt Lipski nach Berlin zurück und übergibt ein Antwortmemorandum, das ein mit diplomatischen Freundlichkeiten garniertes klares Nein zu den zwei deutschen Wünschen darstellt. Die Brisanz der Note liegt in dem Wortwechsel, mit der sie übergeben wird. Nachdem von Ribbentrop das polnische Memorandum gelesen hat, sagt er zu Lipski, daß diese Antwort keine Lösung darstellt. Er beharrt darauf, daß der einzig gangbare Weg die Wiedereingliederung Danzigs in das Reich und exterritoriale Transitwege seien. Lipskis Antwort darauf ist, daß
„er die unangenehme Pflicht habe, darauf hinzuweisen, daß jegliche weitere Verfolgung dieser deutschen Pläne, insbesondere soweit sie die Rückkehr Danzigs zum Reich beträfen, den Krieg mit Polen bedeuten“.
Hier taucht die erste Drohung mit dem Kriege auf. Und es ist der Pole, der sie ausspricht.
Drei Tage nach dem klaren Nein aus Polen, am 31. März 1939, verkündet die britische Regierung, daß England die Unversehrtheit Polens gegenüber Deutschland garantiert.
Die Ankündigung der Polen, statt einen Kompromiß zu schließen lieber Krieg zu führen, die provozierende Mobilmachung und das Dazwischentreten Englands nehmen Hitler in den letzten Märztagen 1939 jede weitere Hoffnung, in der Danzig-Frage auf dem bisherigen Weg allein zum Ziel zu kommen. Er setzt die militärische Option erst jetzt neben weitere Verhandlungen. Am 3. April gibt Adolf Hitler der Wehrmacht erstmals den Auftrag, einen Angriff gegen Polen so vorzubereiten, daß er ab 1. September 1939 möglich ist. Polen tanzt ab dem 3. April 1939 auf dem Vulkan. Der Ausbruch ist für den 1. September angesagt.
Hitler sieht in der polnischen Mobilmachung als Antwort auf ein Verhandlungsanerbieten und im Britisch-Polnischen Abkommen einen Bruch des Deutsch-Polnischen Freundschafts- und Nichtangriffsvertrages von 1934, den er deshalb am 27. April mit einem Memorandum kündigt. Im Memorandum erkennt Hitler noch einmal Polens Anspruch auf Westpreußen-Pomerellen und den Ostsee-Zugang an. Er schlägt vor, die Streitpunkte zwischen Deutschland und Polen durch neue vertragliche Regelungen endgültig aus der Welt zu schaffen. Hitler droht Polen im Memorandum mit keinem einzigen Wort mit Gewaltmaßnahmen oder Krieg. Noch immer wäre bei einer Rückkehr Danzigs der Weg zum Frieden zwischen dem Deutschen Reich und Polen offen.
In Polen beurteilt man die Dinge völlig anders. Am 5. Mai 1939 begründet Außenminister Beck seine Politik des Status quo und der Abweisung der deutschen Forderungen vor dem Seijm. Der Status der Freien Stadt – so sagt er – beruhe nicht auf den Verträgen von Versailles, sondern auf der jahrhundertelangen Zugehörigkeit der Stadt zu Polen. Das Angebot der Deutschen, alle Gebietserwerbungen früher deutscher Territorien durch Polen nach dem Ersten Weltkrieg als endgültig polnisch anzuerkennen, sei kein Angebot. Die Gebiete seien „de jure und de facto“ längst unbestreitbar polnisch.
Am gleichen Tag, dem 5. Mai, antwortet die polnische Regierung der deutschen auf die Kündigung des Nichtangriffspaktes mit einer Note, in der sie die Respektierung der Rechte Polens im Freistaat Danzig fordert. Doch genau die sind im abgelehnten deutschen Vorschlag zugesichert worden. Zudem fordert Polen in der Note, daß Deutschland den Nichtangriffspakt von 1934 einhält, weil der vor Ablauf von 10 Jahren nicht gekündigt werden darf. Dabei wird tunlichst übergangen, daß die Teilmobilmachung in Polen und der Aufmarsch von Truppen vor den Toren Danzigs selbst Verstöße gegen das Abkommen von 1934 waren. Außerdem beruft sich die polnische Regierung in ihrer Note auf den Kellogg-Pakt, den sie schon viermal selbst gebrochen hat. Im Kern schlägt die polnische Note vom 5. Mai 1939 nichts anderes vor, als daß Deutschland den Verbleib Danzigs außerhalb des deutschen Reichsverbandes im Verein mit Polen selber garantieren soll.
Was nun folgt, ist wie der Rutsch auf schiefer Ebene. Im Juni und Juli 1939 nehmen die Drangsalierungen der Minderheiten in Polen, die Grenzzwischenfälle und der Druck aus Danzig derart zu, daß ein spannungsfreies Verhandeln zwischen der polnischen und der deutschen Regierung nicht mehr möglich ist. Ende Juli, Anfang August belastet ein Streit zwischen Polen und dem Danziger Senat um den Zolldienst im Freistaat zusätzlich das deutsch-polnische Verhältnis. Der Danziger Senat gibt auf Anraten Hitlers nach, und polnische sowie französische Zeitungen berichten, Hitler sei vor der festen Haltung Polens in die Knie gegangen. Der Streit beginnt nun auch psychologisch abzugleiten.
Am 30. August 1939 schiebt Hitler in allerletzter Stunde ein neues Angebot – wie es die Deutschen meinen – beziehungsweise eine neue Forderung – wie es die Polen sehen – nach. Hitler baut eine Brücke, über die die Polen gehen könnten. Das Angebote umfaßt 16 Punkte. Dazu gehören:
- Danzig kehrt heim ins Reich.
- Im nördlichen Korridor soll die Bevölkerung in einer Abstimmung selbst entscheiden, ob das Gebiet polnisch oder deutsch wird.
- Die Hafenstadt Gdingen bleibt dabei auf jeden Fall polnisch.
- Je nach Abstimmungsergebnis im Korridor erhält entweder Deutschland exterritoriale Verkehrswege nach Ostpreußen oder Polen exterritoriale Verkehrswege nach Gdingen.
- Die Beschwerden der deutschen Minderheit in Polen und die der polnischen Minderheit in Deutschland werden einer internationalen Kommission unterbreitet und von dieser untersucht. Beide Nationen zahlen Entschädigungen an betroffene Geschädigte nach Maßgabe der Kommission.
- Im Falle einer Vereinbarung nach diesen Vorschlägen demobilisieren Polen und Deutschland sofort ihre Streitkräfte.
Dies ist das sechste und letzte Angebot von deutscher Seite. Hitler läßt den Polen nun keinen Raum mehr, auf Zeit zu spielen. Er setzt eine Frist für den Gesprächsbeginn. Er „erwartet“, daß Warschau bis zum 30. August 1939 um 24 Uhr einen bevollmächtigten Unterhändler nach Berlin entsendet. Außenminister Beck dagegen will weder den Zeitdruck noch den Verhandlungsort Berlin akzeptieren. Er weist Lipski in der deutschen Hauptstadt an, den neuen deutschen Vorschlag nicht entgegenzunehmen. Einen Tag und fünf Stunden nachdem der vorgeschlagene und „erwartete“ Termin für den Beginn neuer Gespräche ergebnislos verstrichen ist, marschiert die Wehrmacht in Polen ein.
Polen und der Kellogg-Pakt
Ein weiteres Vertragswerk, das die Polen hätte schützen können, ist der schon erwähnte Kellogg-Pakt von 1928, in dem die USA, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Polen, Deutschland und andere erklären,
„daß sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten.“
und
„daß die Regelung und Entscheidung aller Streitigkeiten …, die zwischen ihnen entstehen könnten, …, niemals anders als durch friedliche Mittel angestrebt werden sollen.“
Der Pferdefuß an dem Vertrag für Polen ist die Präambel. Sie bestimmt, daß
„jede Signatarmacht, die zum Kriege schreitet, der Vorteile, die dieser Vertrag gewährt, verlustig erklärt werden sollte.“
Nachdem Polen versucht hat, Frankreich 1933 zum Kriege gegen Deutschland zu bewegen, und nachdem es 1938 erst Litauen und dann die Tschechoslowakei mit Krieg bedroht hat, liegt auf der Hand, daß Deutschland und die Sowjetunion der Empfehlung folgen und den Kellogg-Pakt nicht mehr für Polen gelten lassen.
Die Bilanz
In der Bilanz hat Polen 1939 wenig zu seinen Gunsten vorzuweisen. Die Annexion von Land von vier der Nachbarstaaten, dieAußenpolitik der ständigen Vorteilnahme ohne eigene Vertragstreue wird für Polen zur „Reise nach Jerusalem“. Es wechselt seinen Platz so oft, daß ihm zum Schluß kein Stuhl mehr bleibt. Das Patronat des Völkerbunds und die Sympathie Englands hat Polen schnell mit den Brutalitäten gegen seine Minderheiten abgenutzt. Frankreichs Polenliebe ist erloschen, seit Deutschland auf Elsaß und Lothringen verzichtet hat. Der Kellogg-Pakt ist so oft gebrochen worden, daß Polen keinen Schutz mehr durch ihn zu erwarten hat. Der Vertrag mit Rußland ist 1938 für das halbe Industrierevier von Teschen geopfert worden. Der Vertrag mit Deutschland wird mißachtet, als die Reichsregierung um Gespräche wegen Danzig bittet, Polen daraufhin mobil macht und Truppen vor Danzig aufmarschieren läßt. Der Vertrag, den Polen dafür mit England schließt, bringt Polen keine Sicherheit. Großbritannien will Deutschland die Flügel stutzen und nicht Polen retten. England überlaßt die Polen – als es ernst wird – erst den Deutschen und dann der Sowjetunion. Nach knapp zwei Jahrzehnten neuer Souveränität steht Polen im August 1939 auf dem Scherbenhaufen seiner Außenpolitik, drei Wochen später ist es selbst ein Scherbenhaufen.